Ich entschloss mich, meine Umgebung zu erkunden und packte meinen Rucksack voll mit leeren Flaschen und Dosen in der Hoffnung, die eine oder andere nützliche Reagenz finden zu können.
Dann lenkte ich meine Schritte zu den Ufern des Meltwater Loch. Wie der Name es verrät, wird dieser langgestreckte See von den Schmelzwassern und Bächen der umliegenden Berge gespeist. Derzeit war der See gefroren, soweit das Auge reichte. Was ich nicht hatte erahnen können, war seine unglaubliche Größe. Wie ein kleines Meer füllte er die Taltiefen aus und ich konnte das gegenüberliegende Ufer noch nicht mal erahnen.
Ich wanderte den Strand entlang und hoffte, Schockfische zu entdecken. Die elektrisch geladene Flüssigkeit, mit denen sie ihre Beute betäuben, ist ideal, um Schmerzen zu betäuben. Sowohl die Wunde in meinem Oberschenkel als auch Rorys Anmerkung, dass die Bewohner von High Rannoc sehr anfällig für Unfälle wären, ließen es für ratsam erscheinen, etwas davon an der Hand zu haben.
Plötzlich trug der Wind mir eine leise Melodie zu. Neugierig folgte ich ihr und konnte schließlich einen bezaubernden Gesang ausmachen. Voller Faszination lief ich in dessen Richtung und achtete gar nicht darauf, dass ich mich über das Eis des Sees bewegte. Ich verschwendete keinen Gedanken daran, ob der Gefahr auszurutschen oder ob es dick genug wäre, mich zu tragen. Ich rannte, bis ich eine kleine schneebedeckte Insel erreichte und die Sängerin verstummte, als sie mich heranstürmen sah.
Und plötzlich konnte ich wieder klar denken.
»Es tut mir so leid, « sagte die Sirene und lächelte mich sichtlich verlegen an. »Ich wusste nicht, dass jemand in der Nähe war. Ich wollte nur eine Runde üben. Von den Einheimischen verirrt sich normalerweise keiner hierher. Du musst die neue Hexe sein. Die Najade des Glimmer Wood-Flusses hat mir von dir erzählt. «
Großartig, anscheinend hinterließ eine die Abhänge herunterkugelnde Hexe einen bleibenden Eindruck auf die magischen Bewohner der Rannoc Ranges. Schwer atmend ließ ich mich auf einen der Felsen nieder, die das Ufer säumten. Die Wunde im Oberschenkel pochte und ich war froh, das Bein entlasten zu können. Die Sirene saß auf keine zwei Meter von mir entfernt und ließ ihren schuppigen Schwanz in ein Eisloch hängen. Die Schuppen zogen sich den ganzen Rücken hoch bis zum Nacken und sie besaß auch eine langgezogene Rückenflosse. Die blasse Wintersonne ließ ihre Schuppen silber-blau funkeln. Aber Kopf und Oberkörper entsprachen der einer menschlichen Frau. Wer hätte gedacht, dass ich jemals einer Sirene begegnen würde? High Rannoc machte seinen Ruf, in einem Sammelpunkt magischer Energien zu liegen, alle Ehre.
Ich realisierte, dass ich sie anstarrte und suchte hastig nach einem Gesprächsthema. »Für wen ist denn dein Gesang gedacht?«
»Seeräuber.« Ihr Lächeln verbreiterte sich zu einem Grinsen und ich konnte die ganz und gar nicht menschlichen, spitzen Zähne sehen.
»Hier?«, brachte ich hervor.
»Oh ja, sie kommen manchmal im Sommer mit ihren Schiffen den Strom hoch. Sie stehlen und plündern, wo sie können, aber vor allem lockt sie die Legende über die versunkene Stadt und deren Schätze.«
»Und wie wahr ist diese Legende?«
»Es gibt die Stadt sehr wohl, und Bas Bata bewacht sie. Aber er ist die letzte Zeit wirklich schrecklich gelaunt. Geh ihm besser aus dem Weg, solltest du auf ihn treffen.«
Ich versicherte ihr, dass ich das tun würde,
»Was bringt dich hier an den See?«, fragte sie mich.
»Ich will mich mit der Umgebung vertraut machen. Außerdem halte ich Ausschau nach Schockfischen. Weißt du, wo ich welche finden kann?«
»Für Wundversorgung und schmerzstillende Tränke, richtig? Der alte Rory war oft hinter ihnen her. Aber es gibt noch was besseres!«
Geschmeidig glitt sie in das Eisloch und tauchte unter. Für lange Minuten passierte nichts, doch dann wurde das Wasser durch heftige Bewegungen aufgewühlt und plötzlich färbte sich das Wasser schwarz. Sie tauchte auf und zog sich wieder ans Ufer. Mit einer Hand zerrte sie zog einen meterlangen Fisch aus dem Wasser. Große, leuchtende Glupschaugen, ein Maul voll scharfer Zähne und Tentakel, die durch die Luft und gegen die Sirene peitschten. Ein Schattenhai! Die Sirene ließ sich von seinen Zuckungen nicht beeindrucken.
»Schnell!«
Hastig zog ich eine große Glasflasche aus meinem Rucksack, zog den Stöpsel und hielt sie ihr hin. Der Schattenhai biss in den Flaschenhals und spuckte nachtschwarze Tinte in das Gefäß.
»Du weißt, wie du daraus ein Schmerzmittel destillierst?«
Ich nickte. Dieses Reagenz war potent und viel zu wertvoll für die kleine Verletzung, die ich hatte. »Ich kann dir gar nicht genug danken. Das wird sicherlich in der Zukunft sehr nützlich sein.«
Sie winkte ab. »Es hat mich gefreut, dich kennen zu lernen. Ich treffe viel zu selten neue Leute. Wenn du einfachere Beute finden willst, dort wo der Glimmer Wood-Flusses in den See fließt, tummeln sich gerne die Schockfische.«
Ich verabschiedete mich und folgte weiter dem Ufer entlang bis ich die Flussmündung erreichte. Hier sorgte das schnell fließende Wasser für eine eisfreie Rinne. Wie es mir die Sirene versprochen hatte, glitten Schockfische dicht unter der Oberfläche. Glücklicherweise kamen diese Viecher auch in den Flüssen nahe meiner Heimatstadt vor und ich hatte von meiner alten Meisterin gelernt, wie ich an ihre Schockflüssigkeit komme. Ich schleuderte einen Stein in ihre Mitte. Verschreckt spuckte der Schwarm eine gelbe Wolke aus und stob davon. Eilig schöpfte ich die Flüssigkeit in die Flaschen. Dort, wo Tropfen der Flüssigkeit meine Haut berührten, krackelten sie mit elektrischer Ladung und die Stellen wurden taub. Abgekocht war diese Flüssigkeit ein effektives Schmerzmittel, das stundenlang wirkte.
Dieser Tag war erfolgreich gewesen. Müde, aber zufrieden machte ich mich auf den Heimweg.