Keuchend zog er sich über die Steinbrüstung in den Wehrgang. Endlich hatte er es geschafft. Er verharrte einen Moment, um Atem zu schöpfen. Die Winterluft war beißend kalt.
Vor ihm lag ein weiteres Skelett, das die Überreste einer fremdländischen Rüstung trug. Die bronzenen Ranken mit ihren handlangen Dornen umwucherten die Knochen. Er hatte nur einen beiläufigen Blick dafür übrig. Er hatte viele ähnliche Leichen gescheiterter Freier gesehen, als er den Turm emporkletterte. Dieser war lediglich weiter vorgedrungen als die anderen. Bis auf ihn selbst.
Er schritt den Wehrgang entlang und wich er dabei den Ranken aus. Die alten Geschichten behaupteten, sie könnten sich bewegen, um den Zugang zum Turm zu versperren, doch davon hatte er zum Glück nichts gesehen. Entweder waren die Geschichten übertrieben oder der klirrende Frost hatte die Ranken eingefroren.
Als er zu der massiven Tür kam, schlug ihm das Herz bis in den Hals. Er wagte kaum zu hoffen, dass die Geschichten sich als wahr erweisen würden.
Die Tür hatte sich aber in all den Jahren verzogen. Er musste sich mit aller Kraft dagegen stemmen, um sie weit genug zu öffnen, dass er hinein schlüpfen konnte.
Das Erste, was ihm auffiel, war die Wärme. Draußen herrschte klirrender Frost, die verfluchten Bronzeranken umschlangen den Turm wie ein Gitterwerk bar jeden Blattwerks oder Blüten. Aber hier war es warm, doch konnte er keinen Kamin oder Kachelofen erkennen.
Stattdessen bedeckten auch hier dicke Rankenstränge den Boden und die Wände. Zwischen ihnen hingen Räder und seltsame Geräte der unterschiedlichsten Größen. Ein leises Klicken ging von ihnen aus.
Sein Blick wurde unwillkürlich von der Mitte des Raumes angezogen. Eine Mischung aus Erleichterung und Triumph stieg in ihm hoch.
In einer Glaskuppel saß eine junge Frau auf einem Thron, den Kopf zurückgelehnt, bleich und die Augen geschlossen. Mit angehaltenem Atem trat er näher. War sie tot oder schlief sie nur?
Ihre rechte Hand umklammerte eine metallene Spindel. Weiße Fäden hingen von ihr herab und verschwanden unter den Ranken. Behutsam zog er die Spindel aus ihrem Griff und warf das verfluchte Ding beiseite. Dann zog er die dicken Handschuhe aus und nahm ihre Hände in die seine. Sie waren warm.
Eine Last hob sich von seinem Herzen. Bis zuletzt hatte er nicht gewusst, ob er der Überlieferung wirklich Glauben schenken durfte. Doch hier war sie, die verwunschene Königstochter im magischen Schlaf.
Er rieb seine Daumen über ihre Handrücken. Ihre Augenlider zuckten, doch sie erwachte nicht.
Natürlich. Er musste es so tun, wie es die Geschichten sagten. Er neigte sich vor und küsste sie.
Ihre Augen flogen auf. Für einen langen Moment starrte sie ihn an. Dann verzog sich ihre Miene sich vor Schrecken und Zorn. Sie stieß ihn zurück.
»Eindringling. Räuber.«
Verwirrt taumelte er zurück und stolperte über eine der Ranken. Er fiel, versuchte sich mit, den Händen abzufangen. Ein scharfer Schmerz als sich Dornen in seine Handflächen bohrten. Nein!
»Ihr werdet nicht gewinnen!«
Er wollte protestieren, doch das Gift der Dornen riss ihn in den tödlichen Schlaf.
Der Prompt aus der Flash-Fiction-Challenge lautete: »Steampunk Dornröschen«.